Lieber Roeseler !
Vor 20 Jahren durfte
ich Sie zum ersten Mal, damals Unter den Linden, besuchen. Es war die Zeit
Ihrer Gemeinschaftsarbeit mit Mahrholz. Sie sahen, wie es Ihnen bestimmt
ist, damals schon die Welt der Politik aus der hohen und fordernden Sicht
kultureller Fragen und Gedanken und mit dem aufmerksamen forschenden Blicke
dessen, der dem Gewissen verpflichtet ist. Soviel Landschaften menschlicher
Gestaltung, soviel Widersprüche! Aber die
Herzlandschaft blieb immer, wie es dem Menschen nun einmal bestimmt ist,
die des Gewissens. Was ich damals von meinem ersten Besuch als Bewegendes
mitnahm, hat mich als Gedanke immer wieder begleitet: daß zu den
entscheidenden Proben politischer Ordnungskräfte und staatlicher Bildungen,
zu den Bedingungen ihrer Geschichtswürdigkeit gehört, daß
die politische Ordnung Raum gibt für die Bildung kultureller Nährschichten,
in denen die eigentliche kulturelle Form des Zeitalters gedeihen und reifen
kann. Echte Kulturpolitik ist nur möglich, wenn sie ihre Kräfte
und Weisungen unmittelbar aus dem staatlichen Ordnungswillen beziehen darf.
So wie der Volksstoff seine lebendige und gesunde Lebensform im Staate
und seinen tragenden Ordnungen sucht, so der Volksgeist in den Bildungen
einer geistigen und gegenständlichen Kultur, ohne deren Verwirklichung
jede politische Architektur Torso bleiben muß. So wie sich Gültigkeit
oder Nichtigkeit des politischen Versuchs erst in der Entbindung geistiger
Volkskräfte erweist, und in ihrer Verdichtung zu kultureller Existenz,
ebenso hängt die Geschichtsfähigkeit der kulturellen Kraft eines
Volkes, der in ihm wirkenden Bildungs- und Erziehungsmächte an dem
Vermögen, Gewissen und geistige Triebkraft der staatlichen Formung
zu sein. Am Spiegelgeschehen der politischen und der geistig-kulturellen
Verwirklichung hängt das Schicksal der Epochen.
Damals vor 20 Jahren
glaubten wir, die große Prüfung unseres Lebens, den Krieg, überstanden
zu haben. Wir waren ernsthaft bemüht, seine Lehre zu begreifen und
in persönliches Dasein und politische Wirksamkeit umzusetzen. Wir
haben lernen müssen, daß es schwerere Prüfungen gibt. Wenn
man dann mit 50 Jahren sagen kann, daß man unter den Schicksalshämmern
nicht wie künstlicher Guß zerbrochen ist, sondern wie gewachsenes,
zähes und geschmeidiges Eisen geschmiedet, gehärtet und geformt
wurde, hat man Grund stolz zu sein. Auch für den Menschen gilt ja,
daß der Werkstoff, aus dem er gebildet wurde, seine Form mitbestimmt.
Aber nur der gediegene Stoff erträgt die schweren Prüfungen der
formenden Umweltkräfte. Das Schwache zerbricht. Wem viel zugemutet
wurde, der durfte auch beweisen, daß er schmiedbar gewesen ist, die
Zumutungen seines Lebensschicksals aushielt und an ihnen zu gesteigerter
Form gewachsen ist. Die so Ausgewählten sind die Hoffnung der Schwachen.
Durch jene Hoffnung werden die Starken immer wieder in neue Pflicht genommen.
Diese Ausgelesenen
sind die eigentlich sittlich und geistig nährende Schicht des Volkes.
Sie wissen, aus eigener Erfahrung, daß die von außen formenden
Mächte nur Bleibendes gestalten können, wenn sie die geistig-sittlichen
Grundkräfte, die lebendige Substanz, den Eigensinn des Volkes wie
des Einzelnen, in ihren Willen aufnehmen. Der Werkstoff, aus dem die politischen
Gebilde und die Kulturen zum Wachstum erweckt werden, formt mit. Leben
gelingt nur, wo diese inneren Wachstumskräfte im Einzelnen wie im
Volke so stark sind, daß sie sich durchzusetzen vermögen. Und
der politische Wille findet seine Grenze an der lebendigen Substanz, die
es zu formen gilt; er wird weise gelenkt, wenn das Wissen mit im Spiele
ist, daß auch für die
Welt der politischen
Pannen die Gesetze aller Bildung gelten und vor allem dies Eine, daß
die schöne und gesunde Form eine Wuchsform ist. Das gewachsene Erz
der Berge gibt dem Schmiede den Werkstoff, dem sein Form- und Bildesinn
sich verbindet, damit aus Stoff und Geist die Wuchsform schön gebildeten
Lebens reife.
An Ihrem Geburtstage
hoffe ich vor dem Straßburger Münster zu stehen. In seinem jugendlichen
Versuche »Von deutscher Baukunst. bekennt Goethe: »Mit welcher
unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davortrat!
Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er
aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und
genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. Sie
sagen, daß es also mit den Freuden des Himmels sei, und wie oft bin
ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen,
den Riesengeist unserer älteren Brüder in ihren Werken zu umfassen!
Wie oft bin ich zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen Entfernungen,
in jedem Lichte des Tags, zu schauen seine Würde und Herrlichkeit!
Schwer ist‘s dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben
ist, daß er nur beugen und anbeten muß. Wie oft hat die Abenddämmerung
mein durch forschendes Schauen ermattetes Aug‘ mit freundlicher Ruhe geletzt,
wenn durch sie die unzähligen Teile zu ganzen Massen schmolzen und
nun diese, einfach und groß, vor meiner Seele standen und meine Kraft
sich wonnevoll entfaltete, zugleich zu genießen und zu erkennen!
Da offenbarte sich mir, in leisen Ahnungen, der Genius des großen
Werkmeisters«.
Unser Vermögen
mag schwach sein. Aber die Bilder eines großen Erbes, die uns bis
hierher führten, werden uns auch weiter führen. Für diesen
weiteren Weg und die gestaltende Arbeit, die er von uns fordern wird, wünsche
ich Ihnen von Herzen noch lange währende Kraft.
In treuer Verbundenheit
Ihr Adolf Reichwein
Brief an seine Frau Rosemarie Pfingsten
1943 (Pfingsttreffen des Kreisauer Kreises in Kreisau)
Kreisau, 11. 6. 1943
Liebe Romai,
hier sitze ich also wieder in dem luftigen "Berghaus" zwischen hohen .Akazien, mit dem Blick auf das liebliche Tälchen, durch das die Peile fließt, jenes harmlose Wässerchen, das zur Zeit der Schneeschmelze wild und wütend wird und alle zwei Jahre die Brücken wegreißt, die drunten zum Park, zum Schloß und zu dem Wirtschaftshof führen. Die ganze nächste Landschaft hat etwas vom englischen Charakter an sich, auch im Stil: mit Weidestücken, die von hohen Baumgruppen umgeben sind mit Hügeln, die von Bäumen gekrönt sind; zur Linken einsam der Zobten, der alte schlesische Zauberberg, das Wahrzeichen Mittelschlesiens, zur rechten das Eulengebirge mit seinen sanften Konturen und der Senke, die ins Innere dieses schlesischen Waldlandes führt, das Waldenburger Bergland, ein Kohlengebiet, in dem die jämmerlichste Armut und auch menschliche Verkommenheit (als Resultat der Armut) herrscht. Es ist wieder schön und gastfrei hier; und sehr nahrhaft (was ich nach 6 Tagen Gemeinschaftsverpflegung in Danzig-Oliva sehr genieße). ...
[es folgt die ausführliche Schilderung eines von ihm durchgeführten Kurses in Danzig]
... Am Donnerstag will ich - über Pfingsten - nach Kreisau fahren; worüber ich aber in Berlin - außer Harro - niemandem Nachricht gegeben habe. Lore weiß, daß sie in dringenden Fällen bei Harro anrufen soll, damit er mich benachrichtigt. Ich möchte, daß Du auch nicht darüber sprichst. In der Nacht von Pfingstmontag zu Dienstag will ich nach Bln. zurückfahren ...
Dein Edolf
[Anm.: Die Datierung kann
so nicht stimmen. Der 11.6.1943 war ein Freitag, zwei Tage vor Pfingsten,
liegt also bereits nach jenem am Schluß erwähnten Donnerstag,
an dem Reichwein nach Kreisau fahren wollte. Möglicherweise stammt
ein Teil dieses stark gekürzten Textes einschließlich des hier
wiedergegebenen Schlusses aus einem vorhergehenden Schreiben oder wurde
erst in Kreisau diesem Brief beigelegt.]