Brief an Dr. Hans Roeseler vom 1. Mai 1943

Lieber Roeseler !

Vor 20 Jahren durfte ich Sie zum ersten Mal, damals Unter den Linden, besuchen. Es war die Zeit Ihrer Gemeinschaftsarbeit mit Mahrholz. Sie sahen, wie es Ihnen bestimmt ist, damals schon die Welt der Politik aus der hohen und fordernden Sicht kultureller Fragen und Gedanken und mit dem aufmerksamen forschenden Blicke dessen, der dem Gewissen verpflichtet ist. Soviel Landschaften menschlicher Gestaltung, soviel Widersprüche! Aber die Herzlandschaft blieb immer, wie es dem Menschen nun einmal bestimmt ist, die des Gewissens. Was ich damals von meinem ersten Besuch als Bewegendes mitnahm, hat mich als Gedanke immer wieder begleitet: daß zu den entscheidenden Proben politischer Ordnungskräfte und staatlicher Bildungen,  zu den Bedingungen ihrer Geschichtswürdigkeit gehört, daß die politische Ordnung Raum gibt für die Bildung kultureller Nährschichten, in denen die eigentliche kulturelle Form des Zeitalters gedeihen und reifen kann. Echte Kulturpolitik ist nur möglich, wenn sie ihre Kräfte und Weisungen unmittelbar aus dem staatlichen Ordnungswillen beziehen darf. So wie der Volksstoff seine lebendige und gesunde Lebensform im Staate und seinen tragenden Ordnungen sucht, so der Volksgeist in den Bildungen einer geistigen und gegenständlichen Kultur, ohne deren Verwirklichung jede politische Architektur Torso bleiben muß. So wie sich Gültigkeit oder Nichtigkeit des politischen Versuchs erst in der Entbindung geistiger Volkskräfte erweist, und in ihrer Verdichtung zu kultureller Existenz, ebenso hängt die Geschichtsfähigkeit der kulturellen Kraft eines Volkes, der in ihm wirkenden Bildungs- und Erziehungsmächte an dem Vermögen, Gewissen und geistige Triebkraft der staatlichen Formung zu sein. Am Spiegelgeschehen der politischen und der geistig-kulturellen Verwirklichung hängt das Schicksal der Epochen.
Damals vor 20 Jahren glaubten wir, die große Prüfung unseres Lebens, den Krieg, überstanden zu haben. Wir waren ernsthaft bemüht, seine Lehre zu begreifen und in persönliches Dasein und politische Wirksamkeit umzusetzen. Wir haben lernen müssen, daß es schwerere Prüfungen gibt. Wenn man dann mit 50 Jahren sagen kann, daß man unter den Schicksalshämmern nicht wie künstlicher Guß zerbrochen ist, sondern wie gewachsenes, zähes und geschmeidiges Eisen geschmiedet, gehärtet und geformt wurde, hat man Grund stolz zu sein. Auch für den Menschen gilt ja, daß der Werkstoff, aus dem er gebildet wurde, seine Form mitbestimmt. Aber nur der gediegene Stoff erträgt die schweren Prüfungen der formenden Umweltkräfte. Das Schwache zerbricht. Wem viel zugemutet wurde, der durfte auch beweisen, daß er schmiedbar gewesen ist, die Zumutungen seines Lebensschicksals aushielt und an ihnen zu gesteigerter Form gewachsen ist. Die so Ausgewählten sind die Hoffnung der Schwachen. Durch jene Hoffnung werden die Starken immer wieder in neue Pflicht genommen.
Diese Ausgelesenen sind die eigentlich sittlich und geistig nährende Schicht des Volkes. Sie wissen, aus eigener Erfahrung, daß die von außen formenden Mächte nur Bleibendes gestalten können, wenn sie die geistig-sittlichen Grundkräfte, die lebendige Substanz, den Eigensinn des Volkes wie des Einzelnen, in ihren Willen aufnehmen. Der Werkstoff, aus dem die politischen Gebilde und die Kulturen zum Wachstum erweckt werden, formt mit. Leben gelingt nur, wo diese inneren Wachstumskräfte im Einzelnen wie im Volke so stark sind, daß sie sich durchzusetzen vermögen. Und der politische Wille findet seine Grenze an der lebendigen Substanz, die es zu formen gilt; er wird weise gelenkt, wenn das Wissen mit im Spiele ist, daß auch für die
Welt der politischen Pannen die Gesetze aller Bildung gelten und vor allem dies Eine, daß die schöne und gesunde Form eine Wuchsform ist. Das gewachsene Erz der Berge gibt dem Schmiede den Werkstoff, dem sein Form- und Bildesinn sich verbindet, damit aus Stoff und Geist die Wuchsform schön gebildeten Lebens reife.
An Ihrem Geburtstage hoffe ich vor dem Straßburger Münster zu stehen. In seinem jugendlichen Versuche »Von deutscher Baukunst. bekennt Goethe: »Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davortrat! Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. Sie sagen, daß es also mit den Freuden des Himmels sei, und wie oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen, den Riesengeist unserer älteren Brüder in ihren Werken zu umfassen! Wie oft bin ich zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen Entfernungen, in jedem Lichte des Tags, zu schauen seine Würde und Herrlichkeit! Schwer ist‘s dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben ist, daß er nur beugen und anbeten muß. Wie oft hat die Abenddämmerung mein durch forschendes Schauen ermattetes Aug‘ mit freundlicher Ruhe geletzt, wenn durch sie die unzähligen Teile zu ganzen Massen schmolzen und nun diese, einfach und groß, vor meiner Seele standen und meine Kraft sich wonnevoll entfaltete, zugleich zu genießen und zu erkennen! Da offenbarte sich mir, in leisen  Ahnungen, der Genius des großen Werkmeisters«.
Unser Vermögen mag schwach sein. Aber die Bilder eines großen Erbes, die uns bis hierher führten, werden uns auch weiter führen. Für diesen weiteren Weg und die gestaltende Arbeit, die er von uns fordern wird, wünsche ich Ihnen von Herzen noch lange währende Kraft.

In treuer Verbundenheit

Ihr Adolf Reichwein
 
 

Brief an seine Frau Rosemarie Pfingsten 1943 (Pfingsttreffen des Kreisauer Kreises in Kreisau)
 

Kreisau, 11. 6. 1943

Liebe Romai,

hier sitze ich also wieder in dem luftigen "Berghaus" zwischen hohen .Akazien, mit dem Blick auf das liebliche Tälchen, durch das die Peile fließt, jenes harmlose Wässerchen, das zur Zeit der Schneeschmelze wild und wütend wird und alle zwei Jahre die Brücken wegreißt, die drunten zum Park, zum Schloß und zu dem Wirtschaftshof führen. Die ganze nächste Landschaft hat etwas vom englischen Charakter an sich, auch im Stil: mit Weidestücken, die von hohen Baumgruppen umgeben sind mit Hügeln, die von Bäumen gekrönt sind; zur Linken einsam der Zobten, der alte schlesische Zauberberg, das Wahrzeichen Mittelschlesiens, zur rechten das Eulengebirge mit seinen sanften Konturen und der Senke, die ins Innere dieses schlesischen Waldlandes führt, das Waldenburger Bergland, ein Kohlengebiet, in dem die jämmerlichste Armut und auch menschliche Verkommenheit (als Resultat der Armut) herrscht. Es ist wieder schön und gastfrei hier; und sehr nahrhaft (was ich nach 6 Tagen Gemeinschaftsverpflegung in Danzig-Oliva sehr genieße). ...

[es folgt die ausführliche Schilderung eines von ihm durchgeführten Kurses in Danzig]

... Am Donnerstag will ich - über Pfingsten - nach Kreisau fahren; worüber ich aber in Berlin - außer Harro - niemandem Nachricht gegeben habe. Lore weiß, daß sie in dringenden Fällen bei Harro anrufen soll, damit er mich benachrichtigt. Ich möchte, daß Du auch nicht darüber sprichst. In der Nacht von Pfingstmontag zu Dienstag will ich nach Bln. zurückfahren ...

Dein Edolf

[Anm.: Die Datierung kann so nicht stimmen. Der 11.6.1943 war ein Freitag, zwei Tage vor Pfingsten, liegt also bereits nach jenem am Schluß erwähnten Donnerstag, an dem Reichwein nach Kreisau fahren wollte. Möglicherweise stammt ein Teil dieses stark gekürzten Textes einschließlich des hier wiedergegebenen Schlusses aus einem vorhergehenden Schreiben oder wurde erst in Kreisau diesem Brief beigelegt.]